FV-102 | Paradigmenwechsel bei der Organspende: Unterschiedliche Wirkungen auf postmortale und Lebendspenden?
Prof. Dr. Stefan Felder, Richard Abbasi
Forschungsgegenstand
In der Schweiz werden jährlich rund 550 Organtransplantationen durchgeführt. Diese Eingriffe
retten Leben und verbessern die Lebensqualität der betroffenen Patienten. Allerdings befinden sich
dreimal mehr Patienten auf der Organwarteliste, als es Spenderorgane gibt. Infolgedessen stirbt
durchschnittlich alle fünf Tage ein Patient auf der Warteliste. Die Schweizer Stimmbevölkerung
hat sich am 15. Mai 2022 für die Widerspruchslösung bei der Organspende ausgesprochen. Wer
nach dem Tod keine Organe und Gewebe spenden möchte, muss dies künftig festhalten. Die neue
Regelung soll frühestens ab 2024 gelten. Demnach gilt jede Person grundsätzlich als Organspender,
ausser sie hat zu Lebzeiten festgehalten, dass sie nicht spenden will. Anders als die aktuell gültige
Zustimmungslösung, bei der nur die Personen Organspender sind, welche zu Lebzeiten eingewilligt
haben.
Problemstellung
Länder mit einer Widerspruchslösung weisen durchschnittlich mehr postmortale Organspenden
auf als andere. Allerdings ist sich die relevante Literatur uneinig darüber, ob das Modell der
Willensäusserung einen signifikanten Effekt auf die Anzahl von Organspenden hat. Die bisher
publizierten Resultate unterscheiden sich aufgrund der jeweils gewählten Methodik teilweise stark.
Um den Effekt eines Paradigmenwechsels bei der Organspende zu quantifizieren, reicht der alleinige
Vergleich der Organspenderzahlen von Ländern mit Zustimmungs- und Widerspruchslösung
nicht aus. Zusätzlich ist eine differenzierte Analyse in Abhängigkeit des Organ- sowie Spendertyps
(postmortal oder lebend) nötig. Erste eigene Untersuchungen zeigen, dass der positive Effekt der
Widerspruchslösung auf die Spendenbereitschaft klarer hervortritt, wenn nur die postmortalen
Organspenden betrachtet werden. Umgekehrt präsentiert sich die Bereitschaft bei Lebendspenden
in Ländern mit Widerspruchslösung unterdurchschnittlich. Mutmasslich hat also das gültige
Paradigma bei der Organspende Auswirkungen auf die Bereitschaft von Angehörigen zu einer
Lebendspende.
Zielsetzung
Die Wirkung der Widerspruchslösung auf die Bereitschaft zur Organspende soll mit den vorliegenden
Länderdaten untersucht werden. Dabei wird neu zwischen postmortalen und Lebendspenden
unterschieden. Bei den häufigsten Transplantationen, der Niere, machen die Lebendspenden
ungefähr die Hälfte aller Spenderorganen aus. In England, Wales und den Niederlanden gab es in
den vergangenen Jahren einen Paradigmenwechsel hin zur Widerspruchslösung. Möglicherweise
erlaubt es die Datenlage, kausale Effekte des Paradigmenwechsels auf die Bereitschaft zur
Lebendspende und zur postmortalen Spende zu identifizieren. Das Ziel besteht allgemein darin,
die Faktoren, welche die Anzahl von Organtransplantationen beeinflussen, zu identifizieren und
deren Einflüsse separat zu quantifizieren. Schliesslich soll versucht werden, die Wirkung einer
Einführung der Widerspruchslösung im Jahre 2024 auf die Bereitschaft zur Organspende in der
Schweiz zu prognostizieren.