FV-103 | Gesellschaftlicher Nutzen von Mobility Pricing
Prof. Dr. Beat Hintermann, Dr. Beamont Schoeman
Ziele des Projektes
Die Quantifizierung der Wohlfahrtseffekte von Mobility Pricing hat zwei
Komponenten. Erstens verändern die Reisenden ihr Verhalten infolge des
Pricings, was zu einer Anpassung des individuellen Nutzen führt. Zweitens
haben die Anpassungen einen Effekt auf das allgemeine Verkehrsgleichgewicht.
Das Projekt hat somit zwei Ziele. Erstens die Schätzung der Nutzen im partiellen
Gleichgewicht (d.h. aufgrund der experimentellen Daten), und zweitens die
Berechnung des neuen Verkehrsgleichgewichts und die damit resultierenden
Nutzenveränderungen.
Die Quantifizierung der Wohlfahrtseffekte erfordert ein umfassendes Modell
von Mobilitätsnachfrage und -angebot. Die wichtigsten Präferenzparameter, die
in diesem Modell vorkommen, sind der Wert von Zeit unterwegs («Value of Travel
Time Savings») und die relative Präferenz für unterschiedliche Verkehrsmittel.
Diese können aufgrund der Beobachtungen während des Experiments
ökonometrisch geschätzt werden. Für die allgemeinen Gleichgewichtseffekte
braucht es eine Übersetzung der veränderten Verkehrsnachfrage auf den
Stau, die Auslastung des öffentlichen Verkehrs und die Verkehrsunfälle. Dafür
verwenden wir die exogene Variation der Mobilität in der Schweiz aufgrund der
COVID-19-Pandemie, die wir mit unserem Tracking Panel beobachtet haben.
Die Kombination einer exogenen Preisvariation (im Experiment) und einer
exogenen Nachfragereduktion (durch COVID-19) ist einzigartig in der Literatur
und schafft sehr gute Voraussetzungen, die Wohlfahrtsgewinne von Mobility-
Pricing zuverlässig zu schätzen.
Realisierte Schritte
Die bisherigen Arbeiten fokussieren auf die Berechnung der Nutzen im partiellen
Gleichgewicht mit den Daten des Verkehrsexperiments. Die Anpassung des
Verkehrsgleichgewichts aufgrund des Pricings und die Übersetzung in eine
Veränderung der Nutzen wurde noch nicht in Angriff genommen. Dafür braucht es
die Parameterschätzungen des ersten Teils.
Der erste Schritt bestand in der Anreicherung der Daten mit sogenannten «nichtgewählten
Alternativen». D.h. für jede beobachtete Reise in unseren Daten haben
wir mit Google API bis zu drei Alternativen mit anderen Verkehrsmitteln generiert.
Eine typische Reise kann man mit dem Auto, dem öffentlichen Verkehr, mit dem
Velo oder zu Fuss machen. Eine dieser Varianten wurde effektiv gewählt, während
die anderen drei hypothetische Alternativen sind. Für Wege über 50 km wurden der
Langsamverkehr (Velo und zu Fuss) nicht berücksichtigt. Die Alternativen sind alle
mit Attributen versehen, wie z.B. die Kosten, die Zeit, Anzahl Umsteigevorgänge und
Takt. Im Modell wurde für jede Reise das Wetter am Abfahrtsort, Reisezweck (z.B.
Arbeit, Einkaufen oder Freizeit) und ob die Reise während der Hauptverkehrszeit
stattfand inkludiert.
In einem zweiten Schritt haben wir die Parameter der Nutzenfunktionen mit einem
multinomialen Logit-Regressionen geschätzt. Dies gibt eine erste Indikation dafür,
ob die Alternativen richtig kalibriert sind und ob das Modell mit den wichtigsten
theoretischen Voraussagen übereinstimmt (z.B. sollte die Wahrscheinlichkeit, ein
bestimmtes Verkehrsmittel zu wählen, negativ von den damit verbundenen Kosten
und dem Zeitaufwand korrelieren). Diese MNL-Modelle sind relativ einfach zu
schätzen, haben aber den Nachteil, dass die Parameter nur auf Populationsebene
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geschätzt werden. Um die (vermutlich sehr wichtigen) Heterogenitäten abzubilden,
haben wir danach damit begonnen, «gemischte» multinomiale Logit-Regressionen
zu schätzen (bekannt als «mixed logit»). Diese Methode lässt eine beliebige
Verteilung der Parameter zwischen Individuen zu und ermöglicht somit eine
realistischere Modellierung des Mobilitätsverhaltens der Bevölkerung. Da es sich
bei unseren Daten um ein Panel handelt (d.h. wir haben mehrere Beobachtungen
pro Person), konnten wir die Verteilungen der Parameter auf der Grundlage der
früheren Entscheidungen der Individuen eingrenzen. Diese bedingten Verteilungen
bilden eine bessere Schätzung der individuellen Präferenzparameter als die
unbedingten oder globalen Parameterverteilungen. Diese Arbeit mit mixed logit
ist sehr zeitaufwändig und wurde seit Herbst 2023 mit Feedback aus mehreren
Konferenzpräsentationen weiter optimiert. Es ist zu erwähnen, dass diese Art der
Modellierung mit einem solchen grossen Datensatz auch die Rechenkapazitäten
von Standard-Rechner sprengt und wir auf den Supercomputer der Universität Basel
«scicore» zurückgreifen mussten. Diesen Schritt ist auch mit hohem Zeitaufwand
verbunden und erfordert spezialisierte Programmierkenntnisse.
Das logit-Modell gibt uns, neben den Verhaltensparametern, auch den erwarteten
Nutzen für jede Reise, unter Berücksichtigung des gewählten Transportmittels
und der zur Verfügung stehenden Alternativen. Dies erlaubt es uns, den
durchschnittlichen täglichen Nutzen zu messen pro Person, und zwar vor und
nach dem Treatment. Mittels der im Modell geschätzten personenspezifischen
Parameter für Kosten (was dem Grenznutzen von Geld entspricht) können wir diese
Nutzendifferenz dann in einen monetarisierten Wert umrechnen. Der Vergleich
nachher minus vorher zwischen der Pricing- und Kontrollgruppe ergibt dann die
Nutzenveränderung aufgrund des Pricings. Diese Nutzenveränderung muss dann
mit der Zahlung der Mobility-Preise und der Reduktion in den externen Kosten
verrechnet werden, um den gesamten Wohlfahrtsgewinn zu berechnen.
Als Vergleich zu einer optimalen Pigou-Steuer, sind wir momentan dabei andere
Mobility Pricing Ansätze im Modell zu testen um ein Bild zu verschaffen wie weit
diese Ansätze vom Optimum entfernt sind.
Ergebnisse
Eine Internalisierung der externen Kosten ist per Definition wohlfahrtsfördernd.
Dabei müssen drei Komponenten miteinander verrechnet werden: Der
Wohlfahrtsgewinn durch die Reduktion der externen Kosten (CHF 111 pro
Person und Jahr), der private monetarisierte Nutzenverlust durch die Erhöhung
der Preise (CHF 1'441), und die Steuereinnahmen (CHF 1'353). Laut unseren
gegenwärtigen Resultaten beträgt der Netto-Gewinn durch Mobility Pricing CHF
23 pro Person und Jahr. Diese eher tiefe Zahl ist darauf zurückzuführen, dass wir
nur eine relativ geringe Reaktion beobachten: Kurzfristig sinken die externen
Kosten um 5%, d.h. die meisten Personen verändern ihr Verhalten nur wenig.
Die langfristig erwartbaren Effekte sind ziemlich sicher höher, aber unser
Experiment dauerte nur 8 Wochen und lässt somit keine Quantifizierung der
langfristigen Anpassungen zu.
Publikationen
Die Berechnung der Wohlfahrtsgewinne im partiellen Gleichgewicht ist der
wichtigste Teil bei der Revision eines Artikels für Review of Economic Studies.
Die Frist für die Einreichung der Revision ist Januar 2024.