
Fokus Forschung
Digitale Transformation beginnt mit der Unternehmenskultur
Newsletter #6 | 18.06.2025
Professor Michael Beckmann und Professorin Conny Wunsch haben in einem gemeinsamen, vom Nationalfonds finanzierten Projekt untersucht, welche Auswirkungen die digitale Transformation auf die Arbeitswelt hat. Michael Beckmann, Professor für Personal und Organisation, fokussiert auf die Nachfrageseite und spricht über über Organisationskultur, digitale Transformation und die Ambivalenz von Autonomie und Kontrolle. Die Forschungsresultate von Arbeitsmarktökonomin Conny Wunsch finden Sie im letzten Newsletter #5.
Herr Beckmann, Sie haben den Stand der Technologie 4.0 in Schweizer Unternehmen untersucht. Was war das Ziel Ihrer Studie und wie sind Sie methodisch vorgegangen?
Unser Ziel war es, den Einsatz von Industrie-4.0-Technologien in Schweizer Unternehmen empirisch zu erfassen. Dafür haben wir eine gross angelegte Unternehmensbefragung initiiert – fast 10.000 Firmen wurden angeschrieben. Leider fiel der geplante Erhebungszeitraum genau in die Anfangsphase der Covid-19-Pandemie, was den Rücklauf erheblich beeinträchtigte. Letztlich konnten wir rund 500 Antworten auswerten. Der Rücklauf war geringer als erhofft, aber die Daten sind dennoch repräsentativ. Unser Hauptziel war es, ein Bild davon zu bekommen, wie weit Schweizer Firmen mit digitalen Technologien sind. Wir wollten wissen, was konkret eingesetzt wird – von klassischer IT über Cloudlösungen bis hin zu Dingen wie 3D-Druck, Blockchain oder KI. Also eine Art Bestandsaufnahme: Welche Technologien kommen wirklich zum Einsatz?
Und? Wie digital sind Schweizer Unternehmen heute?
Viele der Technologien, die man heute mit dem Schlagwort „Industrie 4.0“ verbindet, sind noch erstaunlich wenig verbreitet. Klar, Grundausstattung wie Laptops, Smartphones und klassische Softwarelösungen wie ERP-Systeme oder CRM-Tools sind weit verbreitet. Aber wenn man genauer hinschaut – Blockchain, künstliche Intelligenz, Internet of Things, cyber-physische Systeme – da passiert in der Breite noch relativ wenig. Zum Teil ist das fast nicht vorhanden. Und das hat uns ehrlich gesagt überrascht.
Haben Sie auch untersucht woran das liegen könnte?
Nicht direkt. Aber wir haben in einem zweiten Schritt auch die Organisationskultur der Unternehmen genauer angeschaut. Zum Beispiel: Wie innovationsfreudig sind sie? Welchen Fokus legen sie auf Wettbewerb oder auf Teamarbeit oder Stabilität? Anhand dieser Angaben konnten wir die Firmen vier Kulturtypen zuordnen. Dabei zeigte sich, dass Firmen mit einer innovationsorientierten Kultur deutlich weiter sind in der digitalen Transformation als andere. Unternehmenskultur scheint ein zentraler Treiber für die Digitalisierung zu sein – vielleicht sogar der wichtigste. Wir haben diesen Zusammenhang - soweit es die Daten zuliessen - auch ökonometrisch untersucht und konnten ihn bestätigen. Ich vermute zudem, dass die Organisationskultur auch beeinflusst, wie Unternehmen ihre eigene Position wahrnehmen. Das war nämlich ein weiteres überraschendes Resultat: Viele Firmen überschätzen ihren eigenen digitalen Reifegrad.
Welche Auswirkungen haben die neuen Technologien denn auf die Organisation der Firma, zum Beispiel auf die Verteilung von Entscheidungskompetenzen? Wird durch neue Technologien eher zentralisiert oder dezentralisiert?
Wir brauchen natürlich Zeitreihen-Daten um das fundiert zu beantworten. Was wir heute schon sagen können, die Auswirkung ist nicht mehr so eindeutig wie früher. In den 90er- und 2000er-Jahren haben viele technische Neuerungen eher zur Autonomie der Mitarbeitenden beigetragen. Heute, mit Industrie 4.0, sieht das anders aus. Technologien wie Big Data, KI oder vernetzte Systeme bringen sehr viele Informationen hervor – und diese Informationen fliessen oft an die Spitze des Unternehmens was zentrale Entscheidungsprozesse begünstigt. Warum sollen Entscheidungen noch delegiert werden, wenn man sie auch zentral treffen kann?
Allerdings gibt es auch Gegenbeispiele: Einer meiner Mitarbeiter hat spezifisch den Einsatz von HR-Analytics auf die Entscheidungskompetenzen untersucht und da zeigte sich eher eine Verlagerung von Entscheidungen von der obersten auf die mittlere Hierarchiestufe – also eine gewisse Dezentralisierung. Unsere Forschung legt also nahe, dass es beides gibt. Technologien, die Dezentralisierung begünstigen, existieren ebenso wie solche, die verstärkte Kontrolle und Zentralisierung ermöglichen. Viele Firmen scheinen heute auch beides parallel zu nutzen. Die klassische Dichotomie „Autonomie oder Überwachung“ greift also nicht mehr.
Bedeutet das, dass wir in eine neue Phase betrieblicher Organisation eintreten – eine Art Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Prinzipien?
So sieht es aus. Autonomie und Kontrolle schliessen sich heute nicht mehr aus. In vielen Fällen gewährt man operative Freiheiten – aber gleichzeitig werden Überwachungssysteme eingesetzt, etwa Tracking-Software oder digitale Leistungsanalysen. Es ist eine Art von „vertrauensvoller Kontrolle“, bei der Verantwortungsübernahme und Performanceüberwachung Hand in Hand gehen. Entscheidungsprozesse verschieben sich, aber sie lösen sich nicht grundsätzlich von der Hierarchie. Strategische Entscheidungen verbleiben zumeist bei der Unternehmensleitung, operative Entscheidungen werden teils delegiert – aber oft unter datenbasiertem Vorbehalt. Es ist nicht mehr ein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch.
Was heisst das für die Mitarbeitenden?
Die Anforderungen steigen. Die meisten Firmen gehen davon aus, dass die Aufgaben für die Mitarbeitenden komplexer werden – nicht einfacher. Gleichzeitig wird von den Mitarbeitenden erwartet, dass sie selbständig handeln, aber ihre Leistungen sind messbarer als je zuvor. Das hat schon fast etwas Paradoxes: Man vertraut – aber kontrolliert trotzdem.
Welche übergeordneten Erkenntnisse ziehen Sie aus Ihren Studien – gerade im Hinblick auf zukünftige technologische Entwicklungen?
Zwei zentrale Einsichten kristallisieren sich heraus: Erstens sind es nicht primär technische oder ökonomische Faktoren, die über die Einführung von Industrie-4.0-Technologien entscheiden, sondern stark auch kulturelle und organisationale Rahmenbedingungen. Die Unternehmenskultur wirkt dabei als Treiber. Zweitens müssen Kategorien wie „Zentralisierung versus Dezentralisierung“ oder „Autonomie versus Kontrolle“ zukünftig wohl differenzierter betrachten. Moderne Organisationen funktionieren zunehmend hybrid. Der technologische Wandel bringt nicht nur neue Werkzeuge, sondern verändert auch die Art, wie wir über Organisation und Führung denken müssen.

The Swiss labour market in the digital transformation
Digitalisation is changing the demands on employees. This project aims to show how exactly these demands are changing and how demand and supply of work react to these changes.
Working Paper
Lehmann, J. and Beckmann, M. (2025): “Digital technologies and performance incentives: evidence from businesses in the Swiss economy”
Interview und Text: Dr. Brigitte Guggisberg