Fokus ForschungDigitale Interventionen, mentale Gesundheit und politische Umsetzung: Herausforderungen der modernen Gesundheitsökonomie

Armando Meier

Prof. Dr. Armando N. Meier

Newsletter #8 | 17.12.2025

Armando Meier, Sie sind in Politischer Ökonomie promoviert worden und haben nun eine Professur für Gesundheitsökonomie inne. Wie kam es zu diesem Schwerpunkt?
Ich habe mich bereits in meinem Doktorat mit gesundheitsökonomischen Fragen auseinandergesetzt, oft in Verbindung mit einem verhaltensökonomischen Fokus. In einem meiner Papiere untersuchte ich zum Beispiel, ob und wie Emotionen unsere Risikohaltung beeinflussen. Anhand eines grossen Paneldatensatzes aus dem deutschen Haushaltspanel, mit über 100.000 Beobachtungen, konnte ich zeigen, dass sich individuelle Emotionen – zum Beispiel Glück, Angst oder Wut – darauf auswirken, ob Menschen eher bereit sind, Risiken einzugehen. Auch wenn Risikobereitschaft selbstdeklariert ist, wissen wir heute, dass sie eng mit experimentellen Massen für Risikoverhalten zusammenhängt.

Das Spannende daran ist, dass diese Ergebnisse den klassischen Annahmen widersprechen, nach denen positive Emotionen automatisch mehr und negative Emotionen weniger Risikobereitschaft bedeuten. Die Daten zeigten klar: Man darf Emotionen nicht nur nach „positiv“ oder „negativ“ einteilen. Entscheidend ist auch der Erregungsgrad. Wut ist hoch erregend und wirkt anders auf die Risikoneigung als Angst, die eher dämpfend wirkt. Diese Zusammenhänge werden in der Ökonomie nur selten berücksichtigt – obwohl sie reale Verhaltensmuster systematisch prägen, sei es bei Investitionen, beim Wählen oder eben im Gesundheitsbereich.

Warum haben Sie sich dann entschieden in die Gesundheitsökonomie zu gehen?
Ich finde Gesundheitsökonomie ein extrem wichtiges Forschungsfeld, weil wir als Ökonominnen und Ökonomen dort wirklich wichtige Beiträge leisten können. Die Themen sind zentral, aber die ökonomische Perspektive wird oft kaum berücksichtigt – weder in der öffentlichen Berichterstattung, noch in der Forschung. Die Perspektive der kleinen ökonomischen Welt ist im Gegensatz zur grossen medizinischen Welt, klar untervertreten.

Ich bin überzeugt, dass wir aus der Ökonomie viele Einsichten gewinnen können, die zur Problemlösung im Gesundheitssystem beitragen. Gerade während der Pandemie haben Ökonominnen und Ökonomen viel zur Gesundheitsökonomie publiziert, und diese Beiträge stiessen auch ausserhalb des Fachgebiets auf grosse Resonanz. Das zeigt, dass Grundlagenforschung nicht nur für die Ökonomie wichtig sein kann, sondern auch einen Beitrag zu Public-Policy-Problemen leisten kann.

Welche Themen bearbeiten Sie in Ihrer Forschung?
Ich forsche an der Schnittstelle zwischen Ökonomie und Public Health, insbesondere zu schwierig zu antizipierenden Effekten von Politikinterventionen. Bereits während meiner Dissertation habe ich mich mit diesem Thema beschäftigt: Zusammen mit Alois Stutzer und Reto Odermatt haben wir die Wirkung eines Abgabeverbotes von Tabakprodukten für Jugendliche untersucht. Der Effekt war nicht intuitiv klar – ein Forbidden-Fruit-Effekt hätte die verbotene Ware mental noch attraktiver machen können. Unser Projekt zeigte, dass dies im konkreten Fall nicht der Fall war. Solche schwer vorhersehbaren, aber messbaren Effekte von Politikmassnahmen sind eine zentrale Stossrichtung meiner Forschung.

Und wie lässt sich Ihre Forschung auf die aktuellen Herausforderungen im Gesundheitsbereich übertragen?
Die Motivation meiner aktuellen Forschung lässt sich auf zwei grosse Krisen zurückführen. Die erste ist, dass viele Politikmassnahmen, von denen wir wissen, dass sie wirksam wären, schlicht nicht umgesetzt werden. Dieses Paradox begegnet uns ständig. Die zweite Krise betrifft die mentale Gesundheit, insbesondere bei jungen Menschen. Über die letzten Jahre zeigen junge Leute deutlich schlechtere mentale Gesundheit. Global ist mentale Gesundheit inzwischen ein zentraler Faktor im Global Burden of Disease, und in der Schweiz entfallen über die Hälfte der IV-Bezüge auf psychische Probleme – bei der jüngeren Generation ist der Anteil am höchsten.

Verfolgen Sie dazu konkrete Projekte?
Ja. Ich leite zusammen mit Mauricio Avendano ein grosses Projekt in Kolumbien, das untersucht, ob und wie der Zugang zu digitalen Mental-Health-Programmen die psychische Gesundheit sowie Bildungs- und Arbeitsmarktergebnisse von Studierenden aus armen Familien verbessert. Das Ausmass des direkten Zusammenhangs zwischen mentaler Gesundheit, ökonomischer Entscheidungsfindung, Produktivität und Bildungsstand zu messen ist einer der Gründe für mein Interesse an diesem Gebiet.

Wir evaluieren in einer gross angelegten randomisierten Studie mit mehr als 10.000 Teilnehmenden eine 10-wöchige Intervention auf Basis kognitiver Verhaltenstherapie, die gemeinsam mit den jungen Erwachsenen entwickelt wurde. Die Studie ist in das landesweite Programm „Youth Income“ integriert, das über 350.000 Studierende mit Bildungszuschüssen unterstützt.

Weil wir auf administrative Daten der Regierung zugreifen können und diese mit Befragungsdaten kombinieren, können wir die gesamte ökonomisch relevante Kausalkette erheben: Zustand der mentalen Gesundheit, Geduld und Selbstkontrolle, Lerninvestitionen wie Studiendauer, Kursabbrüche, Noten und Abschlüsse sowie Einkommens- und Arbeitslosigkeitsdaten. Ausserdem geben die Studierenden Selbsteinschätzungen ab, zum Beispiel zu ihren Erfolgsaussichten. Schlechte mentale Gesundheit verschlechtert oft das Selbstbild, und Menschen investieren dann weniger in ihre Zukunft. Viele dieser Aspekte sind in der ökonomische Forschung oft diskutiert worden, aber wir werden anhand dieses Experimentes eine Evidenzbasis schaffen und die Intervention, der Zugang zur digitalen Therapie, wird es uns auch erlauben gewisse Effekte erstmals zu messen.

Lassen sich die Ergebnisse aus Kolumbien auch auf die Schweiz übertragen?
Nicht direkt, aber die Grundaussagen – etwa die Frage, wie mentale Gesundheit Geduld und Zukunftsplanung beeinflusst – dürften auch in der Schweiz Gültigkeit haben. Ich erwarte, dass solche grundlegenden Mechanismen über Länder hinweg vergleichbar sind.

Sie haben auch die politische Umsetzung evidenzbasierter Massnahmen als Forschungsbereich genannt. Worum geht es dabei?
Hier geht es im Weitesten Sinne ebenfalls um Emotionen und deren Einfluss auf menschliches Handeln. Ausgangspunkt ist die grosse Lücke zwischen Evidenz, die in den Sozialwissenschaften erarbeitet wird, und dem, was politisch tatsächlich umgesetzt wird. Wir versuchen besser zu verstehen und messbar zu machen, warum diese Umsetzungslücke existiert. Dazu haben wir eine neue Methode entwickelt, um politische Präferenzen zu messen, die breit einsetzbar ist – auch ausserhalb von Gesundheitsthemen.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Ein Beispiel sind Impfanreize. Wissenschaftlich gut belegt, aber selten umgesetzt. Will man die Haltung von Menschen gegenüber Impfanreizen wissenschaftlich untersuchen, fragt man sie in der Regel einfach wie sehr sie Impfanreize befürworten – etwa auf einer Skala von 1 bis 10. Doch das sagt wenig darüber aus, ob sie diese Massnahmen tatsächlich einführen würden. Wir machen das erstmals messbar: Teilnehmende können für 100 andere Personen Impfanreize einführen – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, dass die Entscheidung tatsächlich umgesetzt wird. So sehen wir, ob sie die Politik wirklich unterstützen.

Gleichzeitig lassen wir sie einschätzen, welche Effekte die Anreize haben – auf Impfbereitschaft, Sicherheitsgefühl oder empfundenen Druck. In einem Experiment mit über 1000 Personen messen wir gleichzeitig die tatsächlichen Effekte. Die eine Gruppe erhält Anreize, die andere nicht. Anschliessend vergleichen wir Überzeugungen über mögliche Effekte und tatsächliche Effekte. Damit die Teilnehmenden nicht raten, erhalten sie eine kleine Belohnung, wenn ihre Vorhersagen korrekt sind. So messen wir sowohl die Effektivität der Massnahme als auch die Lücke zwischen wahrgenommenen und tatsächlichen Effekten.

Sie sagen, dass die Wirkung von Anreizen wissenschaftlich gut belegt sei. Welche Art von Kritik gibt es denn an dieser Politikmassnahme?
Es gibt Zweifel in der Ökonomie selbst – insbesondere basierend auf der Crowding-Out-Theorie, wonach Anreize andere Werte verdrängen und langfristig zu weniger Regelbefolgung führen könnten. Diese Bedenken wurden stark in Medizin, Psychologie und Ethik aufgenommen. In einer zweiten Dimension von Kritik, man könnte sie pragmatisch nennen, wird befürchtet, dass Menschen, die für eine Erstimpfung einen Anreiz erhalten haben, in der Zukunft ebenfalls Anreize erwarten und ansonsten nicht mehr zu einer zweiten oder dritten Impfung bereit sind. Unsere Forschung zeigt jedoch, dass diese Risiken vermutlich überschätzt werden. In unserem Kontext sehen wir nicht, dass Anreize die zweite Impfung reduzieren, Ängste verstärken oder moralische Einstellungen verändern.

Es gibt aber auch normative, ethische Kritik: Manche sagen, man sollte bestimmte Massnahmen grundsätzlich nicht durchführen, weil wir das als Gesellschaft nicht wollen. Egal ob die Massnahmen funktionieren oder nicht. Diese Sicht kann man nicht mit Evidenz widerlegen, sie erfordert eine politische und ethische Debatte in der Gesellschaft. Dennoch ist Forschung auch hier wichtig. Weil wir verstehen möchten, woher diese Haltung kommt. 

 

Interview und Text: Dr. Brigitte Guggisberg

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